Schon im Januar kam mir der Gedanke, dass der WOGA-Komplex einen eigenen Monatsspaziergang wert sein könnte. All die Jahre – die unzähligen Male, die ich hier ein Theaterstück gesehen habe, habe ich es nicht hinter den Querriegel geschafft, der die Schaubühne und die Ladenstraße von der Wohnanlage trennt.
Der Gedanke kam ein weiteres Mal, als ich im April dort war für das Stück Lacrima, das hinter die Kulissen der Haute Couture blickt. Et voilà! Letzten Freitag war es dann soweit. Wir haben eine Radtour zu Bauten der Neuen Sachlichkeit gemacht begonnen… Da durfte der WOGA-Komplex natürlich nicht fehlen.



Da man zum WOGA-Komplex einiges im Netz findet, hier nur ein paar Eckpunkte, die mir am Herzen liegen: 1925-31 erbaut – von Erich Mendelsohn entworfen als “Stadt in der Stadt”. Ich persönlich mag diese Kombination aus Wohn-, gewerblichen und kulturellen Bauten mit geschlossenen Straßenfronten lieber als die reinen Schlafstädte aufgelockerte, von Freiflächen umgebene Wohnstadt.
Ehrlicherweise muss man sagen, dieses Konzept hat hier von Anfang an nicht funktioniert; die kleine Ladenstraße konnte sich gegen die Geschäfte auf dem angrenzenden Ku’damm nicht behaupten. Keine Ahnung, inwieweit die aufkommende Weltwirtschaftskrise dabei eine Rolle gespielt hat. Warum mich das beschäftigt. Das Problem ist zurück: wachsender Leerstand von Gewerbeflächen (allein die verwaisten Kaufhäuser) bei gleichzeitigem Wohnungsmangel.




Mendelsohn hat mit dem WOGA-Komplex eine Alternative zum bürgerlichen Interieur des 19. Jahrhunderts entworfen: zur “Wohnhöhle”, in der sich diejenigen, die es sich leisten konnten, mit viel Nippes hinter schweren Vorhängen gegen die Zumutungen des modernen Lebens verschanzten. Gleichzeitig ist das Ensemble ein Gegenentwurf zur Berliner Mietskaserne. Mendelsohns Wohnanlage umschließt einen Innenhof, der seine Form und Größe durch die das Areal begrenzenden Straßen erhält. Der Innenhof bietet Platz für ein Apartmenthaus samt Vorgärten, einer eigenen Straße, mehreren Tennisplätzen und Grünflächen. Kein Vergleich zur Mietskaserne mit mehreren Hinterhöfen, die ihre Bewohner:innen sozial klassierte. Für seine Zeit war der WOGA-Komplex ultramodern. Es gab sogar eine Wechselsprechanlage…



Doch da das hier ein einschlafender Näh/Mode/Design-Blog ist, möchte ich natürlich auch etwas zu dem Stück Lacrima (dt. Träne) der französischen Autorin Caroline Guiela Nguyen sagen.
Bei Ausbeutung in der Modeindustrie denken vermutlich die meisten zuerst an Fast Fashion. Zu Recht. Aber prekäre Arbeitsbedingungen, Produktionsverlagerungen nach Indien, China oder Afrika und kulturelle Aneignung kommen auch im Luxussegment vor. Gegen den Star-Kult gibt Nguyen den “petites mains”, sprich all denjenigen in Lacrima eine Bühne, die die Träume der Designer:innen überhaupt erst wahr werden lassen (Schnittmacher:innen; Schneider:innen, Sticker:innen usw.). Während Chef-Designer als Künstler gefeiert werden oder sich gleich selbst feiern, bleiben die hochqualifizierten und -spezialisierten Handwerker dahinter (oft Frauen & Migranten) anonym; sie arbeiten unter starkem zeitlichem und emotionalem Druck, nicht selten ohne angemessene Bezahlung.


Der mehr als dreistündige Abend hat mich ziemlich durchgerüttelt. Das mag zum einen am “Hyperrealismus” von Lacrima liegen: Es wird Französisch, Englisch und Hindi gesprochen. Nguyen arbeitet mit einem Ensemble aus Profis und Laien (z. T. mit der entsprechenden migrantischen und handwerklichen Erfahrung), mit Split-Screens, Videoprojektion und Zoom-Äshetik (z. B. für die Video-Calls zwischen den Ateliers in Paris und Mumbai).
Das Stück basiert auf ausgiebiger Feldforschung, wobei die Realität der einzelnen Akteur:innen dann auf der Bühne emotional verdichtet wird. So schaut man u.a. der Atelierleiterin (Première d’Atelier) dabei zu, wie sie peu à peu den Blick für den Unterschied zwischen Beruf und Berufung verliert; sie gibt sich am Ende selbst auf für das Gefühl, Teil dieser exklusiven Welt zu sein. Als sie den unmöglichen Problemen nicht mehr gerecht wird und zusammenbricht, wird sie vom Designer ausgetauscht. Wer dem Druck nicht standhält, scheint es nicht wert, dabei zu sein – und wird schnell vergessen. Ist so etwas nurmehr persönliche Tragödie oder Kritik an einem System, das nicht unwesentlich auf die (Selbst-)Ausbeutung seiner Akteur:innen setzt?



Ein paar Einblicke in das Stück findet Ihr hier bei arte.
3he fecit
Gerade in Wien unterwegs mit seinen großen Wohnkomplexen aus der gleichen Zeit, finde ich den Wohnbau von Mendelsohn natürlich auch sehr interessant. Und ich mag sowieso diese auskragenden halbrunden Balkone. Die sieht man immer wieder bei Bauten aus den 1920er Jahren. Das Thema Leerstand beschäftigt, das Thema Wohnungsnot auch. In Berlin und anderswo. Und das Stück klingt nach ziemlich viel Tiefgang. Die Ausbeutung in der Modeindustrie ist ja schon lange ein Thema. Bereits Elizabeth Hawes hat in ihrem Buch “Fashion is Spinach” um 1931 kein gutes Haar an der Modeindustrie gelassen (gerade heute wieder die deutsche Übersetzung “Zur Hölle mit der Mode” in der Hand gehabt), und ganz offensichtlich hat sich nichts geändert sondern eher noch verschlimmert.
Liebe Grüße, heike
Manuela
Ach, danke für den Hinweis auf Elizabeth Hawes. Ich hatte das Buch vor einigen Jahren auch in der Hand, als die dt. Übersetzung von Constanze Derham erschien. Ja, es passt “wunderbar” zum Thema, eine gute Gelegenheit mal wieder hinein zu schauen.
Ja, die großen Balkone und auch die Loggien sind wirklich super, nicht zuletzt weil sie gestreifte Markisen haben; es wird hier inzwischen im Sommer mitunter unerträglich heiß…
Ich hätte nicht erwartet, dass Wohnungsnot auch in Wien ein Thema ist, da es einen großen öffentlichen Wohnungsbau gibt? Dachte ich zumindest… Dir noch eine schöne Zeit dort.
Nochmals herzlichen Dank & liebe Grüße Manuela
Anja
Bei uns geht es auch gerade los mit den ganzen Ausstellungen zu 100 Jahre Neues Frankfurt, Ernst May usw., ich liebe diese Siedlungen, während ich sie, als ich vor ca. 35 Jahren erstmalig nach Frankfurt kam, total scheußlich fand (damals auch sehr verwahrlost, inzwischen hat man den Wert erkannt) und nur die Gründerzeitviertel in Frankfurt mochte, früher war mir auch gar nicht klar, in welche Zeit sie einzuordnen waren und wie intelligent sie innen gebaut waren. Das Thema Wohnungsnot betrifft irgendwie alle Großstädte, weil alle dorthin wollen. In der nordfränkischen Universitätsstadt, wo meine Tochter studiert, ist das überhaupt kein Thema, es gibt sogar WGs, die ihre absolut bewohnbaren und im Vergleich günstigen Zimmer in diesem Semester nicht loswerden. Und das kürzlich verkaufte Elternreihenhaus im Außenbezirk in einer Mittelstadt in OWL wurde zu einem Preis verkauft, für den man in Frankfurt 2 Garagen bekommt. Soweit meine traurigen Beobachtungen. Arbeitsplätze gibt es in OWL und in Nordfranken genug, daran liegt es nicht.
Aber nun zum Thema, wie sehr würde mich dieses Theaterstück interessieren, klingt richtig toll. Im ersten Moment dachte ich, häh, so leer, aber Pause. Einen schönen Mai wünsche ich dir in Berlin, Alles Liebe Anja
Manuela
Dankeschön Anja, das wünsche ich Dir auch!
Lacrima wurde im Rahmen des FIND Festivals (Festival internationaler neuer Dramatik) gezeigt, es gab daher nur ein paar Vorstellungen in Berlin, die ausverkauft waren. Nguyen tourt mit ihrer Theaterkompanie Les Hommes Approximatifs ab und an, vielleicht kommt sie auch mal nach Frankfurt…
Berlin wäre heutzutage zum Studieren auch nicht mehr meine erste Wahl. Insofern kann ich Deine Tochter gut verstehen.
Herzliche Grüße Manuela
Stefaniel
Der WOGA-Komplex war mir überhaupt kein Begriff, jetzt habe ich also gleich zwei Gründe, nach Berlin zu fahren. Vielleicht sollte ich doch einen meiner Urlaubstage diese Woche opfern! Wie immer super interessant zu lesen, bitte, hör nicht auf zu Bloggen!
Liebe Grüße, Stefanie
Manuela
Ich bin auch immer erstaunt, wie viel sich vor der eigenen Haustür entdecken lässt… Allein schon wegen so reizender Kommentare wie diesem kann ich nicht aufhören zu bloggen!
Liebe Grüße Manuela