Es ist etwas dunkel geworden…

Heute bin ich das erste Mal beim Monatsspaziergang dabei, den ab diesem Jahr Heike (3hefecit.eu) hosten wird. Wer die Aktion nicht kennt: Jeden dritten Sonntag sammelt sie unsere “Fotospaziergänge” aus dem jeweiligen Monat. Das können fünf bis 25 Bilder (alternativer) touristischer Rundgänge sein, aber auch einfach die täglichen Wegstrecken, wobei es um “Schönes im Alltäglichen” oder um das Fotografieren selbst geht.

Mein fotografisches Thema im Januar war die Dunkelheit, die dunkle Jahreszeit, gerade die kurzen Tage zu Anfang des Jahres. Es ist aber auch im übertragenen Sinne gemeint angesichts der weltpolitischen Lage. H. hat gerade den letzten Band von Kutschers Gereon-Rath-Reihe gelesen und Lichtspiel von Kehlmann gleich noch hinterhergeschoben. Ich weiß nicht, was zuerst da war: Ob die jahrestypische Dunkelheit sich wie ein Filter über meine Stimmung gelegt hat oder ich meine düsteren Gedanken auf die Stadt projiziert habe.

Akademie der Künste (1960) im Hansaviertel
Ausstellungsansicht draw love build / sauerbruch hutton tracing modernities

Genau genommen sind es drei Monatsspaziergänge, denen die Bilder hier entstammen. Der erste an Neujahr: Wir waren in der Akademie der Künste zu einer Ausstellung. Ich mag es, wenn sich Natur und Architektur durchdringen. Danach sind wir durch den Tiergarten spaziert und haben Rast im Schleusenkrug gemacht, den es seit den 1950er Jahren gibt. Nach wie vor finde ich es ein perfides Kuriosum, dass Berlin offenbar nicht nur vertikal, sondern auch horizontal geteilt gewesen ist. Die Wasserwege, einschließlich des Schleusenbetriebs unterstanden der DDR-Verwaltung, während im Schleusenhaus darüber (auf Westberliner Boden) eine Kneipe betrieben wurde.

Danach querten wir das TU-Gelände und kamen an der Bogenhalle vorbei. Sie ist Teil eines begehbaren Lehrbuches. Auf dem Campus gibt es eine Sammlung von Ruinen nicht mehr existierender Gebäude; sie wurde vor mehr als 100 Jahren als Anschauungsmaterial für die Studierenden angelegt. Bei diesem Säulengang handelt es sich – vielleicht anders als man vermuten würde – um Industriearchitektur; er gehörte zum Eingangsbereich der Borsig-Werke und schirmte Arbeiter und Passanten voneinander ab.

Wir schlenderten dann den Ku’-Damm hoch zum WOGA-Komplex, der die Schaubühne beherbergt; das Theater ist im ehemaligen Premierenkino Universum der UFA untergebracht. Eigentlich wäre dieses Ensemble der Neuen Sachlichkeit von Mendelsohn einen eigenen Spaziergang wert. Ich hatte noch Karten für das Stück Change ergattert – der Titel schien mir für Neujahr passend; Fans des Dortmunder Tatorts hätten hier ihre Freude gehabt.

Ruine der Bogenhalle der ehemaligen Borsig-Werke in der Chausseestraße (1860)
Schleusenkrug

Mein Verhältnis zur Dunkelheit ist zwiespältig. Einerseits strahlt sie für mich etwas Unheimliches und Bedrohliches aus, andererseits muss bekanntermaßen ins Dunkel hinaus, wer die Sterne sehen will; mal abgesehen davon, dass auf die Nacht, egal wie dunkel, irgendwann der Tag folgt.

Ähnlich geht es mir mit der Botanik; dass Pflanzen auch ein Eigenleben führen, wurde mir einmal mehr im Schutz der Dunkelheit bewusst. Ich war gerade auf dem Heimweg…

Die letzten Bilder sind Erinnerungsschnipsel aus der Ausstellung “Böse Blumen” (Sammlung Scharf-Gerstenberg), das Ziel eines unserer Sonntagsspaziergänge. Natürlich ist die Botanik weder gut noch böse, das sind menschliche Zuschreibungen. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf den Gedichtband Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) von Charles Baudelaire. Während sie dem Autor bei der Veröffentlichung 1857 ein Gerichtsverfahren einbrachten, übten sie auf nachfolgende Künstlergenerationen große Faszination aus.

Apropos menschliche Projektionen: Baudelaire hat in den Blumen des Bösen kein einziges Gedicht einer Pflanze gewidmet; ich besitze den Gedichtband seit Teenager-Zeiten und habe bei der Gelegenheit mal wieder darin gelesen. Überhaupt konnte Baudelaire der Natur nicht viel abgewinnen. Die Blumen des Bösen adressieren die Stadt – die sozialen Gegensätze im Paris des 19. Jahrhundert, der Reichtum der Industriellen und der Verelendung der Vielen. Es geht um Depression (Spleen), Erotik, Rausch, Kitsch, Krankheit und Verfall.

Alexander Kanoldt, Porträt der Tochter Angelina (1935)
Die Venusfliegenfalle verspeist eine Fliege (1922), Filmausschnitt aus Nosferatu von F.W. Murnau
Corona-Virus

Da ist es wieder, das Unausgesprochene, aber Mit-Gemeinte, das Doppeldeutige und Zwiespältige: Zwischen dem Aufblühen (z. B. einer Person) und dem Ausblühen (z. B. von Krankheiten) ist nur ein kleiner Schritt – nur ein Buchstabe, der einen großen Unterschied macht.

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7 Kommentare

  1. Danke fürs mitnehmen auf diesen Spaziergang durch Berlin, diverse Ausstellungen und deine Gedankenwelt. Noch dazu finde ich so einige deiner Gedanken auch in meinen wieder. “Die Blumen des Bösen” stehen auch seit meiner Teenagerzeit in meinem Bücherregal, in der deutschen Übersetzung und im französischen Original. Während mein Schulfranzösisch nicht mehr der Rede wert ist, werde ich mir die deutsche Ausgabe wohl nun auch mal wieder vornehmen. Reichtum von Industriellen/IT-Bossen, Verelendung von Vielen, auch da sind wir wieder angelangt, nur diesmal gehen viele der Vielen freiwillig wie Vieh zur Schlachtbank und zerren alle anderen mit. Das Thema Dunkelheit ist auch in meinen Fotos vom Jahresanfang sehr präsent, gerade auch in den Fotos, die ich in den ersten Januartagen in Berlin gemacht habe. Und in meinen Gedanken, die schwer sind aufgrund des unmöglich Gedachten, das nun wieder möglich ist und teilweise bereits da. Wie gut, dass sich dann doch in der Dunkelheit Schönheit und Farbe und auch Hoffnung wieder finden lässt. In diesem Sinne noch mal Danke für diesen schönen Spaziergang und
    liebe Grüße, heike

    • Manuela

      Liebe Heike, danke für Deine warmherzigen Worte.
      Es tut gut zu hören, dass ich mit meinen Gedanken nicht alleine bin. Ja, dass mit der Hoffnung ist mir wichtig! Schön, dass es rüberkommt. Hoffnung erfordert Anstrengung, gleiches gilt für Zuversicht, Wohlwollen, Zugewandtheit und Vertrauen o.ä.. Es ist eben viel einfacher, sich in Untergangsphantasien zu ergehen und mit dem Finger auf Andere zu zeigen, als die anstehenden Probleme anzugehen. Das haben die Populisten gut erkannt.
      Falls Du mal wieder in der Gegend bist und Lust hast, melde Dich gern! Vielleicht auf einen Kaffee…
      Liebe Grüße Manuela

      • Dankeschön, ich werde mich gerne melden. Und versuchen, nicht wieder 22 Jahre bis zum nächsten Besuch von Berlin verstreichen zu lassen 😉
        Liebe Grüße, heike

  2. Ich lese so gerne bei dir mit. Bitte gib’ deinen Blog nie nie nie auf. Auch deine Fotos, einfach toll. Beim Schleusenkrug habe ich völlig andere Bilder im Kopf, aber natürlich war ich da bisher nur im Garten. LG Anja

    • Manuela

      Das freut mich wirklich sehr! Nie kann ich natürlich nicht versprechen, aber wenigstens habe ich es in nächster Zeit nicht vor.
      Der Schleusenkrug ist, glaube ich, mehr als Biergarten denn als Café bekannt. Vielleicht daher die anderen Bilder im Kopf…
      Lieben Dank und Gruß, Manuela

  3. sehr abwechslungsreich
    und dazu vielschichtige Gedanken
    Dunkelheit schreckt mich eigentlich nicht
    kann man sie doch auch sehr gut erhellen 😉
    das Gemälde gefällt mir
    liebe Grüße
    Rosi

    • Manuela

      Ja, ich mag die Malerei der Neuen Sachlichkeit auch gern.
      Lieben Dank für Deinen Kommentar. LG Manuela

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