Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere an die provokanten Modeaufnahmen für Benetton von Oliviero Toscani. Toscani bediente sich einer Ästhetik des Schocks; er selbst meinte, er habe den Leuten nur den Spiegel vorgehalten bzw. die Realität ungeschönt gezeigt. Tyler Mitchell, dessen Einzelausstellung unter dem Titel Wish This Was Real aktuell im C/O Berlin zu sehen ist, operiert am anderen Ende des Spektrums. Auch er arbeitet als Modefotograf. Für Furore sorgte er, als er als 23jähriger Afroamerikaner die Ikone des Popfeminismus Beyoncé für das Cover der Vogue ablichtete. Wenn Toscani der Traumwelt der Modefotografie einen Riss verpasste, so verschafft Mitchell mit seinen Fotos denjenigen Zutritt, die von der Welt des schönen Scheins bisher ausgeschlossen waren.
Am eindrücklichsten fand ich das bei Aufnahmen, die Schwarze Menschen bei Freizeitaktivitäten im Grünen zeigen und auf die Malerei des 19. Jahrhunderts anspielen. Exemplarisch dafür sei Riverside Scene (2021) genannt: ein Gemälde-großes Foto, das Freunde und Familien bei schönem Wetter am Fluss zeigt – sichtbar miteinander und der Natur verbunden. Die inszenierte Szenerie erinnert an Georges Seurats Gemälde Un dimanche après-midi à l’île de la Grande Jatte (1884), als Erholung und Muse noch das Privileg der weißen Oberschicht waren. Gerade in seinen „postkolonialen Idyllen“, so der Titel des zweiten Teils der Ausstellung (Postcolonial/Pastorial), entwirft Mitchell alternative Bilder zu stereotypen Darstellungen Schwarzer Körper oder macht sie überhaupt sichtbar.
Im ersten Teil der Ausstellung (Lives/Liberties) werden frühe Arbeiten von Mitchell gezeigt, in denen er als Teil der Skater-Szene vor dem Hintergrund der Black Lives Matter Bewegung seine Freunde fotografiert. So stylisch! Ich mag die satte Farbigkeit, das Licht – die melancholische Atmosphäre, die an einen schwülen Sommertag denken lässt, die Eleganz und Poesie im Alltäglichen. Bei aller Schönheit geht von den Fotos eine gewisse Beunruhigung aus; aber vielleicht ist dies auch etwas, dass ich (hinein-)sehe, weil ich um den Hintergrund ihrer Entstehung weiß.
Der dritte Teil (Family/Fraternity) widmet sich Schwarzer Häuslichkeit, der Selbstdarstellung mittels Kleidung und dem Gebrauch von Fotos im Privaten. Mise en abyme, Fotos in Fotos: So gibt es ganze Foto-Wände von den Liebsten, werden ihnen kleine Fotoaltäre gebaut. Wie nonchalant Mitchell zwischen den fotografischen Genres, zwischen Mode und Kunst wechselt, findet sein Finale in der Installation Altars/Arces. Darin versammelt er Arbeiten anderer Künstler:innen, in deren Tradition er sich sieht, darunter auch Loretta Pettway Bennett. Mit ihren Quilts ist er als Kind in Berührung gekommen.
Ich hatte nicht diese vorgefassten Ansichten über die Hierarchie der Kunstformen, die man als Erwachsener verinnerlicht hat. […] Als ich durch den Ausstellungssaal lief, dachte ich […], dass diese Quilts [die des Kollektivs der Quiltmacher:innen aus Gee’s Bend in Alabama, zu denen auch Bennett gehört – A. d. V.] von Menschen gemacht waren, die wahrscheinlich so aussahen wie ich und meine Eltern, und das war mir wichtig.
T. Mitchell
Für Mitchells fotografische Praxis gibt es inzwischen auch einen Begriff, den der „New Black Vanguard“ und ein gleichnamiges Buch (N.B.V. Photography between Art and Fashion) des Kurators Antwaun Sargent. Wieder ein Buch für meine Leseliste. Mich erinnern Mitchells Arbeiten, gerade was die befreiende Wirkung betrifft, die hier der Mode attestiert wird, an das Dressing Up der Sapeure (hier hatte ich schon mal dazu geschrieben), oder auch an Beyoncé selbst. Für das Video zu ihrem Song Apeshit hat sie sich gleich mal im Louvre eingemietet…
Noch bis zum 1. September 2024 im C/O Berlin.
Anja
Oh wie interessant, ihr habt in Berlin echt immer mehr zu sehen als wir hier, lg Anja – auch wieder was gelernt …
Manuela
Mmh? Vielleicht andere Sachen… Bei Dir würde ich mir gerade die “Casablanca Art School” in der Schirn oder “Künstlerinnen um 1900” im Städel anschauen. Ok., hat beides wenig mit Mode zu tun…
Lieben Gruß Manuela
Susanne
Merci für den interessanten Einblick und vor allem für den Buchtipp. Da Berlin für mich leider nicht um die Ecke liegt, ist ein Leseexemplar eine gute Alternative.
Lieben Gruß von Susanne
Manuela
Das kann ich gut nachvollziehen; gerade wenn eine Ausstellung nicht allzu groß ist, dafür allein hunderte Kilometer zu reisen… Ich habe in der Vergangenheit so manchen Bücherschatz schon in öffentlichen Bibliotheken/über Fernleihe gefunden, falls man erstmal nur schauen mag…
Dank Dir & herzliche Grüße Manuela