Auch wenn meine Monatsspaziergänge, dessen charmante Gastgeberin inzwischen Heike (3hefecit.eu) ist, sich bisher abseits touristischer Pfade bewegten – bei meinen Fotos im Mai fehlt selbst mir die Kohärenz. Es sind eher einzelne Bilder, fotografische Schnipsel von Dingen, die mich auf meinen Wegen durch die Stadt berührt haben.
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Zwar war ich viel zu Fuß unterwegs, habe aber entweder vergessen zu fotografieren oder fand den Moment unpassend bzw. wollte die Privatsphäre der Menschen um mich herum nicht verletzen. Wenn ich mir meine Monatsspaziergänge von diesem Jahr so anschaue, scheint Berlin menschenleer zu sein. Das ist natürlich nicht so…
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Am ersten Mai-Wochenende war das Gallery Weekend. Man spaziert von Galerie zu Galerie. Es geht um sehen und gesehen werden – mitunter scheint das Spektakel wichtiger als die Kunst. Aber natürlich kann man auch die eine oder andere Entdeckung machen; ich habe dieses Mal die Künstlerin Desire Moheb-Zandi für mich entdeckt (noch bis 7. Juni in der Galerie Wentrup).

Diese farbenfrohe Wandteppiche haben allein schon deshalb mein Herz erobert wegen ihrer Aufhängungen, die mich an überdimensionierte Wattestäbchen erinnern. Moheb-Zandi kombiniert traditionelle Webtechniken (z. B. Kelim, Patchwork, Knoten oder Schussfaden basierte Techniken) mit unkonventionellen Materialien, wie Gummis, Acryl und Nylon. Sie ist über ihre Großmutter zum Weben gekommen, der sie als Kind dabei zugeschaut hat.


Wie schon bei ihren usbekischen und iranischen Vorfahren hat Weben auch bei Moheb-Zandi eine über die funktionale Herstellung von Textilien hinausgehende Bedeutung: Es ist Identitätsstiftend, sowohl kulturell als auch familiär; traditionell ist es in Zentralasien ein “weibliches” Handwerk, das von Frauen praktiziert wird. Muster dienen als regionale Signaturen.
Weben ist auch spirituelle Praxis – ein meditativer Akt, um Erfahrungen und Erinnerungen zu ordnen. Für Moheb-Zandi symbolisiert der Webstuhl einen (analogen) Computer. Das Muster, das durch die Reihenfolge von Kett- und Schussfäden erzeugt wird, gleicht für sie einer Datenstruktur – einem Code. Und tatsächlich ist der Jacquard-Webstuhl, der sich mit Lochkarten programmieren ließ, ein Vorbild des Computers gewesen.
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Zu meinem Geburtstag hatten die Eisheiligen Berlin fest im Griff, weshalb wir den Nachmittag in der Yoko Ono Retrospektive verbracht haben (Yoko Ono. Music of Mind, noch bis zum 31. August im Martin Gropius Bau). Herzhaft lachen musste ich, als ich die Übersetzung dieses Blattes las, das den Titel Gemälde für eine kaputte Nähmaschine trägt (1961):

Stell eine kaputte Nähmaschine in einen Glasbehälter, der zehn- oder zwanzigmal größer ist als die Maschine. Stell den Behälter einmal im Jahr an einem verschneiten Abend auf den Hauptplatz und lass alle darauf Steine schmeißen.
Zum allgemeinen Steine werfen, hätte ich in den letzten Wochen gern das eine oder andere Mal geladen, als ich an den Abschlussarbeiten meines Mantels saß; ich habe ernsthaft erwogen, mir ein neues Hobby zu suchen…
Das Blatt fand Eingang in Onos legendäres Künstlerbuch Grapefruit (1964), das eine Sammlung poetischer, absurder oder unmöglicher Handlungsanweisungen enthält. Überhaupt kommt dem Publikum bei Ono eine zentrale Rolle zu, insofern es ihre Ideen oft erst realisiert, so auch in ihrem Cut Piece – einer Inkunabel feministischer Kunst.




Ono sitzt schweigend auf dem Boden. Das Publikum hat die Instruktion, einzeln auf die Bühne zu kommen und mit einer Schere ein Stück ihrer Kleidung abzuschneiden; so viel er oder sie mag. Obwohl ich den Mitschnitt bereits in verschiedenen Ausstellungen gesehen habe, erschüttert mich jedes Mal, wie weit der eine oder andere bereit ist zu gehen, wenn er darf. Ono schluckt an einer Stelle des Videos, als ein Mann aus dem Publikum die Gelegenheit (aus-)nutzt … Ich schlucke mit.
Das folgende Objekt ist eine Variation des Themas: Denke nicht an rosa Elefanten, was gewöhnlich genau den gegenteiligen Effekt bewirkt. Hier ist der Elefant eine umgekehrte Nähnadel auf einem gläsernen Sockel, verbunden mit der Anweisung “Forget it”. In anderen Werkausführungen lautet die Anweisung auch: “Forget it while you’re sewing”, was das Nähen zur Metapher für das Vergessen-Wollen macht.

Zwar ohne vergleichbare Dramatik (Ono ist 1933 geboren), hilft mir das Nähen auch bei der Bewältigung der alltäglichen Verletzungen und Kränkungen, die das Leben nun mal bereit hält. Ich sollte dem Nähen wieder mehr Raum geben, als das in letzter Zeit der Fall gewesen ist…
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Comming Soon! Noch ein Nachtrag zu meinem letzten Post. Tina (sienähtschonwieder.de) und ich schauen gerade, ob wir terminlich zusammenkommen, um gemeinsam einen Sew Along zu Hemdblusenkleidern zu hosten. Ihr dürft Euch also auf eine Ankündigung freuen.
3he fecit
Den Spaziergang muss man sich einfach zwischen den einzelnen Ausstellungen denken 😉 Und was für Ausstellungen. Yoko Ono ist nahezu immer gut, aber die Werke von Moheb-Zandi hauen mich wirklich um. Sehr sehr interessant. Danke fürs zeigen.
Und interessiert lese ich vom Hemdblusenkleid-Sewalong. Ich hoffe nur, ich kann den auch in meinem Zeitplan irgendwie unterbringen. Sonst lese ich eben nur interessiert mit und profitiere dann von der Auswahl der vorgestellten Schnitte.
Liebe Grüße, heike
Manuela
Ich würde mich sehr freuen, wenn Du die Zeit findest und mit dabei wärst! Der Zeitplan wird wahrscheinlich sehr großzügig sein.
Ja, Moheb-Zandis Textilarbeiten haben etwas Frisches. Schön, dass Du meine Begeisterung teilst.
Danke für die großzügige Auslegung des Begriffs „Spaziergang“.
Liebe Grüße Manuela
sienaehtschonwieder
Ich hätte wirklich Sorge mich auf die Bühne zu setzen und “freischneiden” zu lassen, als Zuschauer würde mich wahrscheinlich stellenweise die Fremdscham über das von dir beschriebene Verhalten ergreifen.
Ich freue mich schon auf unseren Sew Along!
Grüße, Tina
Manuela
Da bin ich ganz bei Dir, bei beidem. Mir fehlt auch das Vertrauen in meine Mitmenschen, um das zu tun und ich schäme mich nicht selten für das Verhalten anderer. Warum auch immer?
Ich mich auch, schön dass es klappt!
Liebe Grüße Manuela
Anja
Die Webarbeiten sind richtig cool, da würde ich fast den noch vorhandenen Schulwebrahmen aus dem Keller vorholen … An den Nähmaschinentext erinnere ich mich, hatte ihn auch letzten Sommer in der Tate fotografiert. Hemdblusenkleid Sew Along klingt gut, ich will bloß keinen Stoff kaufen, mit den beiden Hemdblusenkleidern, die ich habe, bin ich sehr zufrieden, nachdem ich vor ca 2 oder 3 Jahren ewig nach Schnittmustern gesucht habe (du hattest mir sogar eines angeboten), vielleicht kann ich meine Nählust wieder ankurbeln, lg Anja
Manuela
Wenigstens Teile der Ono Ausstellung sind von der Tate Modern übernommen worden… Oh wie schön, Du hattest Weben in der Schule?
Ich kann mich gerade nicht erinnern, welcher Schnitt es gewesen ist… Ich weiß, dass Du auch das Hemdblusenkleid von Named hast. Aber, dass hattest Du vor mir genäht… Ach es wäre schön, wenn Du Dein Näh Mojo wieder findest und mit dabei wärst. Lieben Gruß Manuela
Anja
Ja, ich habe das von Named und wollte es reproduzieren, hatte aber das Buch aus der Bibliothek. Dann habe ich aber doch so ein spanisches Schnittmuster gekauft, an dem ich unglaublich anpassen musste und mit dem ich unzufrieden war. Aber der Stoff und die Farbe des Kleides sind toll und am Ende sieht die Mängel niemand und ich ziehe es oft an. Habe gestern schon mit Tina getextet im Hinblick auf Teilnahme und habe auch was im Auge. LG Anja
Manuela
Ach wie schön, das freut mich zu hören!
Ja, aufwendige Anpassungen können zermürbend sein. Ich denke in solchen Momenten regelmäßig: neues Hobby oder endlich vollständiges Set an Grundschnitten erstellen…
LG Manuela
Stefanie
Ich habe heute Mittag bei Tina von Eurem Sew-Along gelesen. Seitdem überlege ich, ob ich noch ein Hemdblusenkleid brauche und welcher Schnitt aktuell zu meinem Leben passt. Mein favorisiertes Kleid vermutlich kein echtes Hemdblusenkleid, wenn man Tinas Liste liest: Das Tulpenkleid ( https://krautundkleid.com/2022/08/03/mmm-am-3-8-2022-blusenkleid-burda-05-2022101/), das ich im letzten Jahr noch ein zweites Mal genäht habe, und das weder Rückenpasse, noch aufgesetzte Taschen, geschweige denn Ärmel hat. Aber man soll ja bei Euch nachfragen, was ich hiermit tue. An Schnitten mangelt es nicht, Burda hat in den letzten 12 Jahren gefühlt mindesten 3 Hemdblusenkleider pro Jahrgang auf den Markt geworfen und das Named- Buch hat inzwischen auch den Weg zu mir gefunden.
Die Wandbehänge sehen lustig aus, erinnern mich ein bisschen an Textil-Kunstwerke aus den späten 60ern/frühen 70ern . Allerdings waren die nicht so schick aufgehängt.
Bei uns in der Umgebung heißt das Gallery Weekend “offenes Atelier”, aber leider habe ich es nicht geschafft, die Künstlerinnen , die mich interressierten, zu besuchen, nächstes Jahr vielleicht wieder.
Liebe Grüße, Stefanie
Manuela
Das brauchst Du natürlich auf jeden Fall!
Hallo Stefanie, ich würde mich wenigstens sehr freuen, wenn Du mitmachen würdest.
Da findet sich wohl gerade die alte Gang zusammen…
Witzigerweise habe ich in der Vorbereitung für den Sew Along auch angefangen, alle meine Burdas durchzublättern und eine Liste der Hemdblusenkleider darin zu erstellen.
Zur Förderung unserer kleinen Community – um mehr Leuten die Teilhabe an der Aktion zu ermöglichen, haben Tina und ich uns inzwischen auf eine Minimaldefinition von Hemdblusenkleidern verständigt. Hier ein kurzer Auszug aus dem Post, der morgen erscheint und den ich irgendwann heute noch zu Ende schreiben muss… Ähm, ja.
„{…} sind Tina und ich offen, was Eure persönliche Vorstellung von einem Hemdblusenkleid betrifft: Es sollte allerdings mindestens zwei typische Hemdendetails enthalten, wovon wiederum wenigstens eines davon ein Kragen, eine Knopfleiste oder Manschette sein sollte.“
Mit Kragen und Knopfleiste erfüllt Dein Schnitt also die Kriterien.
Vielleicht soweit für den Moment.
Liebe Grüße Manuela