GESEHEN, gelesen, gemacht… Chiaru Shiota

Viele denken, ich interessiere mich fürs Nähen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Warum sollte ich dann bloggen? Das weiß übrigens kaum einer in meinem analogen Umfeld, ich führe diesbezüglich ein Doppelleben… Umso länger ich nähe – mit steigenden Fähigkeiten rückt der technische, besser gesagt, handwerkliche Aspekt immer mehr in den Hintergrund. „Irgendwann ist alles darüber gesagt…“ meinte letztens eine befreundete Bloggerin beim gemeinsamen Frühstück auf meine Frage, warum sie kaum mehr blogge.

Es sind die Geschichten, die sich mit Bekleidung erzählen lassen, die mich faszinieren. Ob man will oder nicht, Kleider sagen immer etwas über die Trägerin oder den Träger und deren Lifestyle aus: Welches Geschlechterbild wir haben; die Konfektionsgröße gibt Aufschluss über den Körper und seine Akzeptanz; die Wahl von Stoff und Schnitt zeigt, welcher Mode, sprich welcher Zeit wir angehören (wollen), ebenso welcher sozialen Gruppe wir uns zugehörig fühlen; mal abgesehen, dass sich unsere Haltung zu verschiedenen Fragen wie bspw. Gerechtigkeit oder Klima auch in unserer Bekleidung spiegelt. Bei allem vermeintlichen anything goes heutzutage, Kleider machen Leute und stiften nach wie vor Identität.

Insofern Bekleidung immer auf den Körper verweist, ist sie schon lange Thema der Kunst. Daher verwundert es nicht, dass ich Anfang Oktober, als ich in Leipzig war, unbedingt auch die Installation Internal Line von Chiaru Shiota sehen wollte. Sie ist noch bis zum 27. März 2022 im Leipziger Museum der bildenden Künste zu sehen.

Bei der Installation handelt es sich um ein gigantisches Gebilde aus unzähligen roten Fäden, an denen übergroße Frauenkleider emporzusteigen scheinen. Man kann die Installation, die die Proportionen des Museumsraumes aufgreift und über dem Boden schwebt, umrunden, wobei sich die Dichte des Fadengespinsts ändert, was jedoch eine optische Täuschung ist.

Chiaru Shiota ist in Japan geboren, lebt seit den 90er Jahren in Berlin und hat u.a. bei Marina Abramovic und Rebecca Horn an der UDK studiert. 2015 vertrat Shiota Japan auf der Biennale in Venedig und wurde mit der Installation The Key in the Hand international bekannt. Seitdem gelten spektakuläre Installationen aus Wollgarn in Weiß, Schwarz und Rot als ihr Markenzeichen, die sie für den jeweiligen Ausstellungsraum entwirft. Darin spinnt sie häufig Fundstücke aus dem Alltag ein, darunter auch Schuhe und Kleider.

Mal abgesehen davon, dass Shiota ein unglaubliches Gespür für Raum und Proportionen hat, begeistert mich an Internal Line, dass das luftige Gebilde sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht und viel Raum für Interpretation lässt. So fühlen sich die einen angesichts der überdimensionierten Kleider an Traumbilder erinnert, die anderen an Marionetten; die nächsten denken bei den roten Fäden an das Pulsieren von Adern, für andere wiederum verbildlichen sie den Raum zwischen den Menschen…

Faden, Stoff und Kleider werden wegen ihrer Anschmiegsamkeit und Aufnahmefähigkeit häufig mit Handarbeit und Weiblichkeit assoziiert; gerade Künstlerinnen haben derartige Klischees immer wieder infrage gestellt. Auch Shiota versteht ihre Installationen eher als Bilder, die sie in den Raum schraffiert; sie hat ursprünglich Malerei studiert. Natürlich laden das symbolisch aufgeladene Material, wie auch die Farbe und der Titel von Internal Line zu Reflexionen über die “großen Themen” ein. Doch frage ich mich, ob das Ganze bis ins letzte Detail durchdringen zu wollen, nicht eine allzu eurozentristische Lesart ist. Vielleicht funktioniert die Installation eher wie ein Haiku – das einfach ein Gefühl von Staunen hinterlässt?

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7 Kommentare

  1. Sehr sehr cool diese Installation, deine Rubrik gesehen, gelesen, gemacht finde ich im Übrigen richtig toll, Gruß, Anja

    • Lustigerweise hat ich das gar nicht – im Gegensatz zu Mix&Match (was ich gegen die Wand gefahren habe) – als eigene Rubrik geplant… Schön zu hören, dass sie Dir gefällt.
      Dank Dir & liebe Grüße Manuela

  2. grandioses foto mit dem bronzemann!!
    und ich kann sie nicht leiden – die, die ein kunstwerk “zerreden”.
    einfach mal wirken lassen – ohne gleich schubladen aufzuziehen, phrasen zu dreschen, beurteilungen abzugeben. schliesslich ist es kunst – kein wissenschaftlicher essay. insofern bin ich ganz bei dir und dem haiku.
    mich hätte man nur schwer aus diesem raum rausbekommen. kann mir gut vorstellen, mich dort in eine ecke auf den boden zu setzen und die auflösung von raum&zeit zu geniessen……….
    danke für die wunderbaren bilder!

    jaaaa…. die geschichten, die textilien und accessories erzählen können. das ist genau das, was mich an mode/kleidung fasziniert. nicht die naht an sich ist interessant – sondern WARUM sie da und so ist wie sie ist.
    und klar machen kleider leute. IMMER. man kann nicht “nichts” aussagen mit seiner kleidung, seiner frisur, seinem stil. sobald man auch nur ein schmuckstück trägt am FKK-strand (und die frise sowieso) sagt man was aus damit.
    manche haben die wahl und können diese aussage bewusst machen 😀
    xxxxx

    • Danke für die Blumen! Ich hatte mir etwas “Sorgen” gemacht, ob das der geeignete Ort für dieses Thema ist. Aber H. meinte: “Ach, wenigstens die Bahnwärterin wird sich dafür begeistern können…”
      Besonders den letzten Satz hast Du schön gesagt! Den Autopiloten zu unterbrechen, wählen und etwas bewusst machen zu können, halte ich tatsächlich für ein großes Privileg.
      Liebe Grüße
      Manuela

  3. Ein inspirierender Post! Und schöne Bilder! Ich kann mir vorstellen, dass die Wirkung durch das Sonnenlicht und die daraus entstehenden Schatten noch eindrücklicher war.
    Liebe Grüße
    Christiane

    • Dankeschön. Freut mich sehr!
      Ja, die Fotos können die durch Licht ständig wechselnde Stimmung nur bedingt einfangen. Falls Du die nächsten Monate in der Ecke sein solltest, kann ich nur empfehlen hinzugehen.
      Liebe Grüße Manuela

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