I.M POSSIBLE. Alles ist erlaubt! (Gesehen, gelesen…)

Allein dafür wäre ich sicherlich nicht nach Hamburg gefahren. Aber da ein Familienbesuch anstand, ich zudem zwei Karten für ein Klavierkonzert in der Elbphilharmonie hatte, haben wir die Gelegenheit ergriffen – und noch im Museum für Kunst und Gewerbe vorbeigeschaut. Ich mag die Fashionausstellungen im MK&G sehr. Wenn ich sie mit einem Satz beschreiben müsste: Klein, aber fein. Sie sind für eine Branche, die sich für mein Empfinden oft blumig gibt, eher assoziiert als argumentiert, wohltuend auf den Punkt. Die aktuelle Ausstellung I.M Possible. Alles ist erlaubt! (noch bis zum 6. Juli 2025) widmet sich dem Dekonstruktivismus in der Mode.

links: M. Margiela

Anhand von etwa 20 Outfits wird das Vokabular dekonstruktivistischer Mode durchdekliniert: das Innen nach Außen gestülpt (wie bei der Hose von Westwood); die Symmetrie zum Teufel gejagt – linke und rechte Hälfte müssen nicht mehr gleich aussehen (z. B. van Beirendonck); die Proportionen z. T. ins Groteske übersteigert (z. B. Margiela); überhaupt wird der Körper nicht mehr bestmöglich in Szene gesetzt, sondern eher deformiert oder eingehüllt (z. B. Kawakubo, Demeulemeester); es wird mit Stoffresten (Margiela) oder mit ungewöhnlichen Materialien experimentiert (Yamamoto), wobei unvollendete oder zerfallene Looks dominieren; so gibt es Löcher und haufenweise roh belassene Nähte und Säume. Die Funktionalität tritt in den Hintergrund, Bekleidung ist hier weniger Gebrauchsgegenstand als Kunstobjekt.

von links nach rechts: M. Margiela, R. Kawakubo, Y. Yamamoto

‘Dekonstruktion‘ entstammt der Philosophie [von Jacques Derrida – Anm. d. V.] und ist eine Verbindung der Worte ‚Destruktion‘ (Zerstörung) und ‚Konstruktion‘ (Erschaffung).

Ausstellungstafel

Für mich ist der Einfluss der Architektur spürbarer als der der Philosophie. So taucht der Begriff in der Mode erstmals auf, um Arbeiten von Rei Kawakubo zu beschreiben. Als Bezeichnung für einen Stil oder eine Bewegung hat er sich jedoch erst nach der Ausstellung Deconstructivist Architecture (MOMA 1988) verbreitet. Mit der Architektur teilt die Mode den experimentellen Umgang mit den konstruktiven Elementen, sei es eines Gebäudes oder Kleidungsstücks. Wie Türen und Fenster o.ä. werden auch Krägen und Ärmel o.ä. häufig aus der vertrauten Ordnung geschoben und auf diese Weise bewusst gemacht. Dekonstruktivistische Mode intellektualisiert die Mode – wendet sich gegen deren Oberflächlichkeit, indem sie den Blick buchstäblich unter die Oberfläche lenkt. Vorbei mit dem Zauber! Die Struktur eines Kleidungsstücks und sein Herstellungsprozess werden sichtbar gemacht.

Wer zum Dekonstruktivismus in der Mode gehört, wäre sicherlich eine abendfüllende Diskussion: In meinen Augen sind es die japanischen Designerinnen und Designer, die Anfang der 1980er Jahre die Pariser Laufstege rockten (v. a. Kawakubo und Yohji Yamamoto) sowie die Belgierinnen und Belgier, allen voran Martin Margiela. Die Ausstellung rechnet aber auch bspw. Vivienne Westwood dazu. Für mich ist sie die Queen des Punks, sprich: mehr destruktiv und provokativ; doch gibt es hier sicherlich Überschneidungen.

Ist der Dekonstruktivimus in der Mode heute noch relevant? Die Ausstellung zeigt auch Entwürfe jüngerer Designerinnen, wie Iris van Herpen*, Flora Miranda (Seierl) und Marina Hoermanseder**. Die Auswahl mag den Eindruck erwecken, dass gerade Österreich die Dekonstruktion für sich entdeckt, obwohl Seierl in Antwerpen und Hoermanseder in Berlin arbeitet. Das es ein in Berlin ansässiges Label ins Museum geschafft hat, freut mich, denn es gibt hier inzwischen eine Reihe interessanter Designerinnen und Designer, die Sichtbarkeit verdient haben und inzwischen auch bekommen.

14€ für eine so kleine Ausstellung ist sicherlich nicht wenig. Aber das Ticket gilt für das gesamte Haus. Darin ist u. a. auch die Ausstellung Water Pressure. Gestaltungen für die Zukunft (bis 13. Oktober 2024) zu sehen, die sich mit der Wasserkrise – sei es zu viel oder zu wenig – im Zuge des Klimawandels auseinandersetzt. Was mir daran gut gefallen hat, dass sie dies weniger in kritischer Perspektive tut – als Problembeschreibung bis hin zur Untergangsphantasie – sondern konkrete Lösungen vorstellt.

Außerdem nennt das MK&G eine Arbeit von Stuart Haygarth ihr eigen, die ich schon allein sehenswert fand. Haygarth macht gewissermaßen aus Sch… Gold, indem er Plastikmüll an Stränden sammelt und daraus mondäne Kronleuchter baut. Löst sicherlich das Plastikproblem nicht, ist aber wunderschön anzuschauen.

*Die van Herpen Retrospektive in Paris endet heute . Anja (Nordendnaht) hat sie besucht und berichtet hier davon.

** Von Hoermanseder gibt es übrigens in der Burda 5/2018 einen Jackenschnitt zum Nachnähen (hier gezeigt).

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4 Kommentare

  1. Immer wieder interessant, deine Einblicke in eine Ausstellung.
    Herzliche Grüße von Susanne

  2. Vielen lieben Dank auch von mir, auch über die Erwähnung, wünsche dir einen wunderschönen Maifeiertag, auch hoffentlich nicht unruhig, da wo du wohnst, LG Anja

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