GESEHEN, gelesen, gemacht… Anna Heringer & Dipdii Textiles

Wenn man Bangladesch und Textilien hört, denkt man wahrscheinlich als Erstes an Fast Fashion und den Einsturz des Rana Plaza 2013. Das „Made in Bangladesh“ auch etwas anderes bedeuten kann als furchtbare Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung, habe ich erst vor Kurzem zu meiner Überraschung gelernt. Überraschend auch, weil es in der Ausstellung The Future of Cities. Not for Granted (noch bis zum 29.01.2022 in der Baumwollspinnerei Leipzig) gar nicht um Mode, sondern um Stadtentwicklung geht, weshalb ich ursprünglich auch nicht vorhatte, hier auf dem Blog darüber zu schreiben.

Aber Anna Heringer hat mich mit ihrem Anandaloy-Gebäude und Dipdii Textiles so stark beeindruckt, dass ich ohnehin gerade allen davon erzähle; und Mode und Architektur verbindet mitunter mehr, als man gemeinhin denkt: So findet die Ausstellung The Futures of Cities auf dem Gelände der einst größten Baumwollspinnerei Kontinental-Europas statt und Heringer versteht Dipdii Textiles interessanterweise als „städtebauliches Projekt“.

Aber von vorn: Anna Heringer ist Architektin und zwar eine, die nicht Monumente zum eigenen Ruhm erbaut, will heißen: Es geht nicht um das längste, höchste, verrückteste Haus am Platz, das für die Ewigkeit gebaut ist. Solch ein Denken in Superlativen überlässt sie ihren männlichen Kollegen scheint ihr eher fremd. Das Gebäude darf ruhig vergänglich sein – in ihrem Fall sogar kompostierbar, solange das Wissen darum, wie es gebaut worden ist, durch stete Praxis bewahrt wird. Für Heringer ist Architektur idealerweise ein Katalysator für gesellschaftliche Entwicklung; so geht es ihr beim Bauen neben dem Schutz des (Kunst-)Handwerks darum, die lokale Wirtschaft zu stärken, Gemeinsinn und Gemeinschaftsgefühl zu fördern, Ressourcen zu schonen und kulturelle Vielfalt zu erhalten. Für dieses architektonische Selbstverständnis sind das Anandaloy-Gebäude (2018-20) in Rudrapur und Dipdii Textiles gute Beispiele.

Frauen in Bangladesch haben wenig berufliche Möglichkeiten; die meisten von ihnen arbeiten als Näherinnen in der Bekleidungsindustrie mit der Folge starker Landflucht. Abgesehen von den miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen im Umfeld der Fabriken, wird durch die Abwanderung der Frauen auch die bengalische Textiltradition und die traditionelle Dorfgemeinschaft zerstört. Diese Arbeitsmigration lässt sich für Anna Heringer nicht mit herkömmlichen stadtplanerischen Mitteln aufhalten.

Zusammen mit der Modedesignerin Veronika Lena Lang initiierte sie daher Dipdii Textiles mit dem Ziel: den Frauen von Rudrapur ein Einkommen in Heimarbeit zu ermöglichen und die bengalische Kantha-Stickerei zu fördern. Aus ihren abgelegten Saris recyceln die Bengali-Frauen traditionellerweise mehrlagige Decken, die sie mittels Handstichen (Kantha) miteinander verbinden. Lang und Heringer entwickelten wiederum aus diesen Decken bzw. Stoffbahnen eine kleine Kollektion an Bekleidung und Accessoires für den europäischen Markt; so befindet sich im oberen Stock des Anandaloy-Gebäudes eine Werkstatt von Dipdii Textiles, die den Frauen neben der Heimarbeit einen gemeinsamen Ort bietet.

Dipdii Textiles dreht den Spieß um: In der Regel geben wir unsere Altkleider an die dritte Welt zurück. Hier landet der dritte Lebenszyklus bengalischer Baumwollen (Sari – Decken – Mode) bei uns. Zudem macht die Initiative deutlich, dass Bekleidung aus Bangladesch eben nicht nur konfektionierte Billigware ist. Im Gegenteil: Anfangs haben sich die Frauen in Rudrapur wohl mit der Idee der Konfektionierung schwergetan, da Saris für die Trägerin gewöhnlich maßgeschneidert werden.

In den ländlichen Regionen von Bangladesch wird die Kantha-Produktion zunehmend als Erwerbsquelle entdeckt, gerade für Frauen. Sie ermöglicht ihnen einen gewisse sozio-ökonomische Unabhängigkeit, sowohl von der Fast Fashion Industrie als auch von den auf dem Land oft noch vorherrschenden patriarchalischen Strukturen. Insofern ist Dipdii Textiles nicht nur ein städtebauliches, sondern auch feministisches Projekt.

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4 Kommentare

  1. danke für diesen ausstellungsreport!!
    du bedienst hier gleich mehrere meiner interessenfelder 😀 ich interessiere mich sehr für architektur (für jede form von design genaugenommen), ausserdem hat mir die gentrifizierung von berlin und der niedergang kleiner ostdeutscher städtchen die augen geöffnet für stadtplanerische belange. soziales und umweltthemen werden hier schon am frühstückstisch diskutiert und ausserdem findet mode ja nie im luftleeren raum statt, sondern ist immer ein spiegel ihrer zeit – im guten wie im schlechten……….
    leider hab ich grad die links nicht aufbekommen, dorfinternet. aber schon dein text ist spannend und interessant – und eigentlich mal wieder typisch, dass solche lang überfälligen massnahmen an einer frau hängenbleiben!

    xxxxx

    • Gern! Offenbar scheinen wir nicht nur die Begeisterung für die Mode & Schneiderei zu teilen. Ich freue mich über Dein Interesse, umso mehr, als ich gerade an einem reinem Nähblog etwas die Lust verliere. Insofern finde ich es natürlich schön, wenn Texte zu anderen Themen, die mich beschäftigen, auch gern gelesen werden.
      Ja, leider scheint es immer noch so zu sein, dass sich Designerinnen öfters um die Zukunft aller Gedanken machen, während Designer zunächst mal an ihre eigene Zukunft denken und Geschichte schreiben wollen… in der Mode vielleicht sogar noch mehr; so fallen mir da auch zuerst Vivien Westwood und Stella McCartney ein, wenn es darum geht, Fashion mit dem Engagement fürs Klima zu verbinden. Natürlich lassen sich Gegenbeispiele finden, in der Architektur allen voran Bjarke Ingels mit seinem Konzept der “hedonistischen Nachhaltigkeit” oder TAMassociati (letzte auch in der Leipziger Ausstellung), weshalb ich die erste Version des Satzes wieder gestrichen habe…
      Dank Dir & liebe Grüße Manuela

  2. Deine Ausstellungsführungen mag ich immer sehr; interessant und informativ; merci fürs Teilen.
    LG von Susanne

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