Les Routes de la Soie – Seidenstraßen

Im September nehme ich Euch auf einen Rundgang durch Croix-Rousse mit – das Viertel der Seidenweber. Wir haben unsere Sommerferien in Frankreich verbracht und auf dem Weg in den Süden u. a. einen Zwischenstopp in Lyon eingelegt.

Croix-Rousse war auf meiner Must-see-Liste spätestens wieder nach oben gerückt, nachdem ich im Juli die Ausstellung Worth. Inventer la Haute Couture gesehen hatte (leider schon vorbei, hier ein Einblick bei Arte). Wenigstens war mir danach Lyon als Hochburg der Seidenproduktion in Europa wieder präsenter. Charles Frederick Worth, Begründer der Haute Couture, war ein guter Kunde bei Tassinari & Chatel, einer der ältesten und renommiertesten Seidenmanufakturen der Stadt. Das Unternehmen, dessen Wurzeln bis 1680 zurückreichen, existiert noch heute – wenn auch der Fokus inzwischen nicht mehr auf Seide für Bekleidung, sondern auf Stoffen für Interieurs liegt (Restaurierung und Luxuseinrichtungen). Wenn man sonntags wie wir durch die steilen, etwas verschlafen wirkenden Gassen des Viertels schlendert, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass hier einst das Herz der Lyoner Seidenproduktion schlug.

Eingang zur Ausstellung: Worth. Inventer la haute couture. Bis 7. September 2025, Petit Palais Paris. Leider habe ich es nicht geschafft, darüber zu schreiben…

Die Lyoner Seidenproduktion verdankte sich merkantilistischer Politik – sie war ein königliches Prestigeprojekt. Um unabhängiger vom Import florentinischer und venezianischer Seide zu werden, förderte François I. Anfang des 16. Jahrhunderts die Gründung französischer Seidenwerkstätten. Durch die Lage an Rhône und Saône entwickelte sich Lyon rasch zum Umschlagplatz für Luxusstoffe. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Stadt zur Seidenhauptstadt Europas und belieferte den französischen Hof in Versailles und später ganz Europa mit Brokat, Damast und Samt.

Mit der Industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert zog die Seidenproduktion aus den engen Gassen von Vieux Lyon mit seinen Renaissancehäusern hinauf auf den Hügel Croix-Rousse.

Dort entstanden in neuer Bauweise Wohn- und Werkstattbauten – die sogenannten Canut-Wohnungen – mit bis zu vier Meter hohen Decken, nötig für die riesigen Jacquard-Webstühle. (Joseph-Marie Jacquard erfand den gleichnamigen Webstuhl um 1804 in Lyon.) In den eng bebauten Straßen reckten sich auf dem Hügel schmale, hohe Häuserreihen mit großen Fenstern und imposanten Treppen empor. Durchsetzt waren die Blocks mit überdachten Passagen, den Traboules, um die empfindlichen Seidenballen schnell und wettergeschützt von den Werkstätten zu den Händlern am Fluss zu bringen.

Statt außen um den Block herumzugehen, ließ sich von der Straße aus eine unscheinbare Tür öffnen – dahinter ein Hof, eine Galerie, ein Treppenhaus und schließlich ein Ausgang auf eine andere Straße. In Lyon soll es etwa 400 Traboules geben, von denen einige noch heute öffentlich zugänglich sind. Wir haben tatsächlich auch ein paar gefunden – es gibt wohl geführte Traboules-Touren…

Bei aller berechtigten Kritik heutzutage an der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer wird meiner Ansicht nach oft vergessen, dass die Textilindustrie auch in Europa die meiste Zeit ein schmutziges Geschäft war. Die Canuts (Seidenweber) arbeiteten in Croix-Rousse in einer Art Fabrik im Wohnhaus. Das Viertel glich einer riesigen Manufaktur. Die Weber waren hochqualifiziert, dennoch lebten sie in prekären Verhältnissen mit langen Arbeitstagen, niedrigen Löhnen und schwankenden Aufträgen. Vielleicht kennt die eine oder der andere den Ausdruck: „Leben durch Arbeit oder sterben im Kampf!“ (Vivre en travaillant ou mourir en combattant!). 1831 kam es zum ersten großen Aufstand. Als Händler den vereinbarten Mindestlohn nicht zahlten, errichteten die Weber Barrikaden und hielten kurzzeitig die Stadt. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Die Revolte der Seidenweber gilt als erster Arbeitskampf der industriellen Welt.

Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte die Branche eine Krise erlebt. Marie Antoinette machte sich bei den Lyoner Webern unbeliebt: Statt schwerer, gemusterter Seidenstoffe bevorzugte sie leichte Musseline und Baumwollkleider – die sogenannte Chemise à la Reine. Für Lyon, abhängig von Hofaufträgen, war das ein Affront. Man warf der Königin vor, die französische Luxusindustrie zugunsten ausländischer Stoffe zu verraten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, machte Marie Antoinette Politik, wo sie nur eine andere Mode etablieren wollte.

Zu meiner Überraschung begann der Niedergang der Lyoner Seidenproduktion bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit fortschreitender Industrialisierung verlagerte sich die Produktion in Fabriken, oft außerhalb Lyons. Krankheiten wie die Pébrine (Seidenraupenseuche) in den 1850er Jahren zerstörten die lokale Zucht. Später setzten Konkurrenz aus China und Japan sowie billigere Kunstfasern der Lyoner Seidenproduktion zu.

Was mich schockiert hat: wie wenig davon geblieben ist. Die Seidenproduktion in Croix-Rousse ist heute so gut wie verschwunden. Mit seinen appartements canuts, Traboules und den vielen Wandbildern gleicht das Viertel einem Freilichtmuseum, in dem es sonntags eher beschaulich zugeht. Es gibt zwei kleine Museen, wo die historischen Webstühle vorgeführt werden. Leider waren beide geschlossen. Ich muss wohl nochmals einen Zwischenstopp in Lyon einlegen…

Maison des Canuts

Damit reihe ich mich in letzter Minute beim Monatsspaziergang von Heike (3hefecit) ein. Ich freue mich, mal wieder dabei zu sein.

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8 Kommentare

  1. Oh, wie interessant, ich hatte darüber schon mal bei Constanze gelesen, die war in einem Museum. Und Lyon, immerhin die Partnerstadt Frankfurts, steht schon ewig auf meiner Agenda, aber es ergibt sich nicht bzw. einmal haben wir es wieder abgesagt (Covid damals). Vielleicht sollten wir es mal wieder in den Blick nehmen …. lg Anja

    • Manuela

      Vermutlich meinst Du diesen Beitrag, in dem Constanze über Stoffgeschäfte in Lyon schreibt?
      https://nahtzugabe.blogspot.com/2014/09/nahtzugabe-unterwegs-in-lyon-die.html
      Es war interessant und amüsant, ihren mehr als 10 Jahre alten Beitrag zu lesen. Offenbar hatte sie 2014 auch schon Schwierigkeiten mit den Öffnungszeiten. Au Liseron gibt es nach wie vor und das Schaufenster sah, als ich Ende August in Lyon war, beinahe genauso aus (mein Hotel war um die Ecke).
      Das Museum, dass Constanze in dem Text erwähnt, ist m. E. aber nicht in Croix-Rousse, sondern das Musée des Tissus, das eine der größten Stoffsammlungen weltweit besitzen soll. Aktuell wegen Umbau geschlossen. (https://www.museedestissus.fr) Daher würde ich mit den Reiseplänen vielleicht bis zur Wiedereröffnung warten…
      Von der Resonanz, die Constanze auf ihren Beitrag erhielt, kann man heute nur träumen (die Kommentare sind auch lesenswert). Wie Du stelle ich mir natürlich auch manchmal die Frage, ob ich meine Energie nicht lieber anderweitig einsetzen sollte als hier… Umso mehr freue ich mich über Deine Neugier und Begeisterungsfähigkeit.
      Lieben Gruß, Manuela

  2. Gelesen hatte ich deinen Beitrag gleich, dann kam was dazwischen, und irgendwie hatte ich mir eingebildet, ich hätte bereits kommentiert. Entschuldige bitte die Verspätung! Deinen Spaziergang finde ich toll. Lyon kenne ich nur aus Erzählungen meines Opas (der über die Zeit seiner Gefangenschaft nicht allzuviel erzählt hat) und eines Freundes, der einige Zeit in Lyon studiert und gelebt hat. Selbst war ich leider noch nicht dort. Das hügelige Seidenviertel war mir absolut kein Begriff (die Seidenweberei in Lyon schon, aber mehr nicht). Sehr spannend die Gassen und auch die Taboules. Die engen Gassen und hohen Gebäude schaffen regelrechte Schluchten, von unten betrachtet wirkt das Ganze noch monumentaler. Dass die Weber prekär lebten, kenne ich aus Auswertungen der Grundsteuerkataster des 19. Jahrhunderts. Immer wieder spannend, wenn man dann auch Wohnviertel nach sozialer Schichtung kartieren kann. Und auch immer wieder ernüchternd. Die Auswirkungen bestimmter Handwerke auf die Bauweise finde ich auch immer wieder sehr interessant. Es freut mich dass ich nun mittels deines Beitrags ein bisschen mehr über die historische französische Seidenproduktion weiß, ich bin sehr gerne mit euch mitspaziert.
    Ganz liebe Grüße, heike

    • Manuela

      Kein Thema. Ich wähnte Dich schon auf dem Weg nach Japan bzw. dachte, Du hast einfach viel zu tun vor Deiner Reise. Zumindest ist bei mir häufig “Land unter” vor Urlauben, weshalb ich zeitweise gar keine Lust mehr hatte, welchen zu nehmen. Ist nicht zu empfehlen.
      Finde ja faszinierend, welche sozial- und kulturgeschichtlichen Informationen sich offenbar aus Steuerunterlagen ableiten lassen…
      Ich wünsche Dir einen schöne Reise!
      Lieben Dank & herzliche Grüße Manuela

      • 10 Tage noch, dann geht es los. Die letzte Arbeitswoche wird heftig werden, das kommende Wochenende auch, immerhin kann ich mich auf den Grazer Schneidereimarkt und den Besuch von Constanze freuen. Irgendwann dazwischen packen, zum Glück hat der Beste die Organisation des Urlaubs übernommen. Blogs lesen und kommentieren leidet da natürlich ein bisschen. Aber ich freue mich über jeden Beitrag zum Monatsspaziergang und versuche auch möglichst alle nicht nur zu lesen sondern auch zu kommentieren. Und deine Beiträge lese ich immer sehr gerne.
        Ein schönes Wochenende und liebe Grüße, heike

        • Danke. Das klingt nach einem vollen Programm! Ich wünsche Dir, dass Du gut durch die letzte Arbeitswoche kommst. Und der Grazer Schneidermarkt wandert auf meine Liste…
          Herzliche Grüße, Manuela
          P.S. Lieben Gruß auch an Constanze. Seit es das Berliner Frühstück der Nähbloggerinnen nicht mehr gibt, haben wir uns leider auf den Augen verloren…

  3. Stefanie

    Vielen Dank für Deinen Bericht. Wir planen für das nächste Jahr (mit Fragezeichen) einen längeren Frankreich-Urlaub, vielleicht sollte ich Lyon auf die Liste setzen. Dass Lyon Zentrum der französischen Seidenproduktion war, habe ich nicht gewusst, über die Förderung der Seide unter François 1. rühren sich nach der Lektüre vage Erinnerungen… Wie immer eine interessante, schön geschriebene Lektüre.
    Liebe Grüße, Stefanie

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