Gesehen, gelesen… Tagliavinis fotografische Gesamtkunstwerke

Für alle Mode-, Textil- und Kunstbegeisterten, die in den Sommerferien nicht verreisen oder in ihren Ferien nach Berlin reisen, habe ich mal wieder ein paar Ausstellungsempfehlungen, angefangen mit Christian Tagliavini, The Photographic Craftsman. Vor ein paar Jahren habe ich schon einmal über ihn geschrieben (hier).

Bis zum 19. August ist neben älteren Arbeiten Tagliavinis jüngste Fotoserie Circesque (2019) bei Camera Work, die Galerie, die ihn vertritt, zu sehen. Es handelt sich um großformatige Porträts von Zirkusartisten, wenigstens geben die Aufnahmen dies vor. Doch die Protagonisten – Seiltänzer, Dompteure, Burlesque-Darsteller usw. – die diese magische Welt bevölkern, entspringen nicht der Realität, sondern Tagliavinis Vorstellungskraft. Er hat ihre Kostüme und Kulissen entworfen, und die Personen gecastet, die seine fiktiven Charaktere dann für den Moment der Aufnahme verkörpern.

Wie in der Vergangenheit auch lässt Tagliavini das Authentizitätsversprechen der Fotografie ins Leere laufen. Die Fotos referieren auf eine Welt, die nie existiert hat. Daher der anachronistische Riss, der durch seine Aufnahmen geht. Tagliavini inspirieren historische Stile: War es bswp. in der Serie 1406 die Malerei der Renaissance, ist es bei Circesque die etwas abseitige Ästhetik der US-amerikanischen Sideshows der 1920er Jahre und der Stil des Art Deco. Tagliavini schafft Traumwelten. Vielleicht nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass er zur Fotografie kam, als er die Arbeiten von Patrick Demarchelier – eine Ikone unter den Modefotografen – sah.

Gezeigt wird, neben den Aufnahmen selbst eine Auswahl der Kostüme, die Tagliavini von professionellen Schneidern nähen lässt, die retrofuturistischen Kopfbedeckungen, die aus dem 3D-Drucker stammen und ein Video, dass den aufwendigen Entstehungsprozess dokumentiert.

Die Ausstellung ist vermutlich weniger etwas für Liebhaber der Dokumentar- und Straßenfotografie als für diejenigen, die sich für eine malerische Auffassung von Fotografie begeistern und Tagliavinis Vergnügen an der Inszenierung teilen, gerade der Textilien. Man meint, den Brokat, Pelz, Samt usw. mit den Augen ertasten zu können…

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2 Kommentare

  1. ich liebe sowas!
    modefotos an sich sind ja schon extrem “inszenierte realität” – ich hatte immer grossen spass mit den befreundeten fotografinnen bei solchen shootings…… Tagliavini geht noch einen schritt weiter und heraus kommen grandiose bilder.
    inszenierte/malerische fotografie gibt es schon seit es fotografie gibt – sie geriet nur etwas in vergessenheit durch die immer schneller werdende technik, die sich gut für schnappschüsse eignet und den authentizitäts-wahn seit den sechzigern…. übrigens: der berühmte kuss von cartier-bresson ist auch inszeniert 😀
    xxxxx

    • Manuela

      Das dachte ich mir, dass die Ausstellung Dich interessieren könnte: Abseitiges + Art Deco…
      So ein Shooting stelle ich mir aufregend vor, das war sicherlich eine stimulierende Zeit und Berlin bot vermutlich auch eine sensationelle Kulisse dafür.
      So vergessen scheint mir die inszenierende Fotografie/Studiofotografie gerade nicht, oder sie rückt durch die Diskussion um Digitalisierung & KI wieder mehr in den Fokus. Bspw. ist unter dem Titel “Anti-Fashion” gerade eine große Einzelaustellung von Cindy Sherman in der Stuttgarter Staatsgalerie zu sehen. Für mich leider zu weit, wenn ich es nicht mit etwas Anderem verbinden kann…
      Lieben Gruß, Manuela

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