Den Schrei dürfte man in der halben Stadt gehört haben. Ich dachte noch: „Die Zungen scheinen mir recht lang.“ Doch dann klappte die Schere schon zu. Die Paspeltasche und damit das gesamte Vorderteil des Mantels waren hinüber. Nur einen Moment unaufmerksam…
Vom Enthusiasmus der anderen Sew Along Teilnehmerinnen mitgerissen hatte ich im Rahmen des November Wetter Sew Along noch den Mantel #107 Burda 10/2018 begonnen, wohl wissend, dass ein so aufwendiges Projekt nicht in die aktuelle Lebenssituation passte. Es kam, wie es kommen musste, der Mantel wurde ein UFO, was mir eigentlich selten passiert: Entweder mache ich die Sachen fertig oder sie landen in der Tonne; nach Aufgabe wende ich mich gewöhnlich schnell etwas anderem zu… Hier war es anders. Der Grund, abgesehen von der Investition an Zeit und Geld: Ich habe Eure Hilfe für Zwischenlage und Probemodell so ausgiebig in Anspruch genommen, dass ich mich nun verpflichtet fühle, den Mantel zu beenden.
Dass das Thema von Selmins (Tweed & Greet) Aktion #12ausdemStoffregal im Januar “Struktur“ ist, kommt mir dabei mehr als gelegen. Ein Mantel erhält erst seine Form durch sein Innenleben; sonst wäre er kaum mehr als ein dicker Wollpullover, der unmotiviert an einem herunterhinge: Eine gute Gelegenheit zu zeigen, was sich zwischen Stoff und Futter verbirgt – und was Alison Smith als „Anatomie eines Kleidungsstücks“ bezeichnet, das für sich den Begriff „Tailoring“ (Schneiderei, wohl eher Schneiderkunst) reklamiert. Ich weiß, einen Kurs mit dem Titel Essential Guide to Tailoring: Structure and Shape zu buchen, der sich ausschließlich mit Einlagen und dem Unterfüttern von Kleidungsstücken beschäftigt, ist schon ziemlich nerdig (bei Craftsy). Modell #107 Burda 10/2018 eignet sich, wie ich finde, ganz wunderbar dafür. Denn die Kragen- bzw. Ausschnittlösung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein recht klassischer Blazer-Schnitt ist.
Zwischenlagen
Ursprünglich wollte ich den Mantel mit einer Zwischenlage füttern, damit ich ihn auch im Winter tragen kann. Zwischenlagen sind Neuland für mich. Ihr habt mir eine Reihe von Tipps gegeben, was es alles gibt (nochmals herzlichen Dank dafür): Klimamembran, Thinsulate, Flanell, Watteline… Da die Meinungen auseinandergingen, habe ich mir Materialproben bestellt; – um eine Entscheidung zu treffen, muss ich die Sachen doch einmal in der Hand gehabt haben. Die Klimamembran ist bei mir durchgefallen, nicht wegen des Raschelns selbst (meine Outdoor-Jacken rascheln ja auch…), sondern es irritiert mich in Verbindung mit einem klassischen Wollstoff. Ähnlich ging es mir mit Thinsulate – das kann ich mir wunderbar in einem Anorak vorstellen. Irgendwie passen Hightech-Einlagen und Tweed für mich nicht zusammen. Stimmig fühlte sich für mich Wollwatteline an, doch dann las ich irgendwo, dass sie sich aushängt und deshalb zusätzlich abgesteppt werden sollte… Hat jemand Erfahrung damit?
Lange Rede, kurzer Sinn: Es wird nun doch ein Übergangsmantel. Ich weiß, eigentlich das, was ich nicht wollte, aber weder der Schnitt noch der Stoff geben bei genauer Betrachtung einen Wintermantel her. Allerdings habe ich alle Teile des Mantels mit Gewebeeinlage bebügelt. Ich sag’s Euch, hat das stundenlange Bügeln Spaß gemacht! Alison bezeichnet in ihrem Kurs die modernen Einlagetechniken auch als “speed tailoring”. Man sollte sich da allerdings keine Illusionen machen…
Einlagen
Wie Zwischenlagen sind auch Einlagen eine Wissenschaft für sich. Es gibt die traditionellen Schneidertechniken, die Konfektionsmethoden, sowie Mischformen, die sich nicht nur dahin unterscheiden, wie die Einlagen aufgebracht werden (genäht oder gebügelt), sondern auch wo im Kleidungsstück. Gemeinsam ist allen, dem flachen Stoff Struktur zu geben und ihn dahin zu formen, dass ein dreidimensionales Kleidungsstück entsteht.
Zur ersten Orientierung reicht wie so oft ein Blick ins Internet. Als Einführung finde ich Constanzes (Nahtzugabe) Wissenssammlung: Stoffe, Einlagen und Futter im Rahmen des Wintermantel Sew Along von 2012 nach wie vor empfehlenswert; sehr aufschlussreich auch Yvonnes (Yvonetsurreal) Blick ins Innere einer Jacke, wo sie eine gekaufte Jacke „seziert“. Einen detaillierten Einblick bekommt man auch bei Julia (Sewing Galaxy); allerdings sollte man, um einen Mantel auf diese couturige Art und Weise zu verarbeiten, die Geduld eines Zen-Meisters mitbringen. Eine Linksammlung zu Verarbeitungstechniken, die ursprünglich alle aus der Herrenschneiderei stammen, hat übrigens gerade das Kollektivblog Sewcialists im Rahmen des Themenmonats Sew Menswear for Everyone herausgebracht. Bei Büchern fallen mir spontan der Band Tailoring aus der Singer Bibliothek und das gleichnamige Kapitel im Reader’s Digest. Complete Guide to Sewing ein; beide Bücher findet man mitunter in Antiquariaten noch recht günstig bzw. werden sie auch von Zeit zu Zeit neu aufgelegt.
Auch bei Burda. Nähen leicht gemacht gibt es ein Kapitel zur (modernen) „Einlageverarbeitung für Jacken und Mäntel“, an das ich mich weitgehend gehalten habe, weil mein Mantel ein Burda-Schnitt ist. Dementsprechend habe ich mir für das Vorderteil ein Plack gezeichnet und den Umbruch des Kragens mit einem Kantenband eingehalten, beim Rückenteil den oberen Rücken nochmals verstärkt, ebenso den Schlitz, wie alle Säume überhaupt. Auf das Kantenband an den Schultern habe ich verzichtet, weil die Schulternaht bei dem Schnitt nach vorn verlegt ist, und ohnehin alle Schnittteile mit Einlage verstärkt sind. Interessant fand ich die „Auspolsterung“ der Armkugel im Vorfeld, alternativ zum Fischchen; das habe ich sonst nirgendwo so gesehen; bzw. war mir das Fischchen nach dem Einsetzen des Ärmels zu viel, ich hatte es probeweise gesteckt. Nicht zu vergessen die obligatorischen Schulterpolster.
Geschafft. So wird aus einem Wollsack peu à peu ein Mantel. Gerade in der Schulterpartie sieht und spürt man den Unterschied. Das fertige Stück (mit Update zur Passform) gibt es dann Anfang Februar zu sehen. Hoffe ich.
verlinkt bei: #12ausdemStoffregal
verfuchstundzugenäht
Wow! ein gut sitzender Mantel – grandios! Viel Freude – das wird schon!
Manuela
Dankeschön!
Susanne
Ich finde den Schnitt ja immer noch superschön und freue mich, dass du dich durchbeisst.
Ich denke auch, eine Zwischenlage hängt vom Schnitt und gewünschten Fall des Stückes ab und man muss erst mal herausfinden, wie man es gerne haben möchte.
Momentan habe ich dasselbe Problem; ich möchte einen Oversize-Wintermantel für die Tochter nähen und bin mir nicht sicher, ob ich eine Zwischenlage einfügen soll oder lieber nicht. Ich habe jetzt mal Etwas bestellt und entscheide dann, wenn ich die Zwischenlage in den Händen halte.
LG von Susanne
Manuela
Vielen Dank Susanne.
Ich würde noch ergänzen wollen, auch vom Stoff. Das war mir gar nicht so klar, wie stark die Zwischenlage nicht nur Einfluss auf die Optik, sondern auf die Haptik nimmt. Auch wenn die Oversize-Mäntel gerade sehr kastig und sperrig sind, ich würde es genauso wie Du machen: Ausprobieren und dann entscheiden.
LG Manuela
Fröbelina
Was ne Arbeit! Vielen Dank für das Zusammentragen der ganzen Infos, darauf werde ich sicher mal zurückkommen! Jetzt bin ich gespannt auf den fertigen Mantel an dir!
Liebe Grüße
Katharina
Manuela
Gern geschehen.
In der Vergangenheit habe ich wiederholt von der Schwarmintelligenz der Nähblogger*innenszene profitiert; ab und an ist es mir ein Bedürfnis, etwas zurückzugeben…
Dank Dir Katharina & Liebe Grüße
Charla
Puh, eins meiner nächsten Projekte sollte ein Mantel werden – aber vielleicht überlege ich es mir doch noch mal. Deine Ausführungen sind ja sehr ausführlich – und es hört sich alles ganz schön kompliziert an. Respekt.
lg Charla
Manuela
Ich wollte niemand entmutigen! Das kommt auch auf den Schnitt an… Mein erster Mantel war ein Indie-Schnitt. Gewöhnlich sind die Anleitungen dort ausführlicherer als bei Burda oder den Big Four, z. T. bebildert oder es gibt Sew Alongs dazu, was es schon mal weniger kompliziert macht.
Danke für Deinen Kommentar.
LG Manuela