Zwischen den Jahren habe ich meine Freundin J. in München besucht. Bei einem Stadtbummel zu zweit sind wir zufällig an der Gaultier-Retrospektive vorbeigekommen (Jean Paul Gaultier: From Sidewalk to Catwalk, bis 14.02.2016 in der Kunsthalle München).

Ich mag Gaultier, weil er sich früh vom Schönheitsideal der Mode distanziert – und große und kleine, dicke und dünne, alte und junge Models über den Laufsteg geschickt hat, dabei Geschlechterklischees fröhlich über Bord werfend, und zugebenermaßen neue schaffend: tätowierte Frauen, Männer in Röcken … Das ging leider in der Ausstellung ein wenig unter, denn die Schaufensterpuppen, die seine Entwürfe trugen, entsprachen den von Werbeindustrie und Massenmedien favorisierten Körpermaßen. Daran änderte für mich auch nichts, dass man auf die Puppenköpfe reale Gesichter projiziert hatte; ich fand es eher gruselig, als eine der Puppen vor mir plötzlich die Augen aufschlug. Die gezeigten Mitschnitte von Fashion-Shows, Konzerten und Filmen vermittelten schon eher einen Eindruck von Gaultiers programmatischer Vielfalt.

Gaultier, wie ich irgendwo gelesen habe, hatte keine chronologische Präsentation gewollt. So waren die Entwürfe aus vier Jahrzehnten nach Themen sortiert, z. B. gab es einen Raum zum Einfluss von Punk auf seine Kollektionen, einen zu den Korsagen mit konischen Brüsten, wie sie mit Madonnas Blond Ambition Tour (1990) Popgeschichte geschrieben haben, andere Räume widmeten sich seinen Bühnenoutfits und Filmkostümen … nicht zuletzt den maritimen Streifen, die zu seinem Markenzeichen geworden sind.

Von der Bretagne hat sich Gaultier auch in seiner Frauenkollektion Herbst-Winter 2015/16 inspirieren lassen. Zu Dudelsack-Klängen ließ er seine Interpretation bretonischer Klassiker, wie der Marineuniform und des Fischerhemdes, über den Laufsteg defilieren. Er zeigte aber auch einige Kombinationen in Blau und Braun – eine Farbauswahl, die mir ausgesprochen gefiel und die ich mir in meiner Wintergarderobe gut vorstellen konnte – natürlich eine im Alltag tragbare Version davon …

Und so habe ich noch eine Ginger-Jeans (von Closet Case Patterns; zu ersten hier) genäht: dieses Mal in einem tiefseeblauen Denim von Stoff & Stil; dazu Taschen, Bund und Nähte braun und beige abgesetzt – wieder ein Griff in die Restetruhe.

Trotzdem gelingt es mir nicht wirklich, mein Stofflager abzubauen.

Dazu trage ich eine Else von Schneidernmeistern – inzwischen einer meiner Basisschnitte für Shirts: dieses Mal mit überlangen Ärmeln und weitem Rollkragen (Schnittbesprechung hier).

Zusammen überzeugen mich Jeans und Shirt nicht, obwohl ich jedes Teil für sich ganz gerne mag. So sitzt die zweite Ginger sogar noch besser als die erste. Mithilfe von Heather Lous E-Book Sewing Your Own Jeans (ja, ich konnte nicht widerstehen!) habe ich noch weitere kleinere Anpassungen vorgenommen und die Beine unten leicht ausgestellt. Für mich lohnt sich daher der Kauf der Schnittergänzung Flares oder der momentan von Bloggerinnen viel genähten Birkin Flares von Baste + Gather nicht; mithilfe des E-Books kann man entsprechende Veränderungen am Schnitt relativ leicht selbst vornehmen. Rollkragen und vor allem die farblich abgesetzte Schulterpasse der Else gefallen mir auch – das werde ich sicherlich wiederholen. Nur die überlangen Ärmel nerven in überheizten Büroräumen (merke: nur für Outdoor-Klamotten verwenden).

Ich weiß, Ringeljersey, vor allem in Kombination mit Jeans wird gerade überall als “Stylish Maternity Dressing” vermarktet. Für mich ist diese Kombination ein nach wie vor gern getragener Klassiker, weshalb ich mir zu meiner zweiten Ginger schnell noch eine blau-weiß-gestreifte Else genäht habe (U-Boot, Ärmel dieses Mal in Normallänge). **

Damit ist ein alltagstaugliches Outfit entstanden. Alltagstauglichkeit schien mir bisher selbstverständlich und war für meine Schnitt- und Stoffwahl maßgebend. Seit ich Dagny Lüdemanns Rezension gelesen habe, die die Gaultier-Retrospektive für die Zeit besprochen hat, bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob ich das weiter so handhaben will.

Laut Lüdemann ist Gaultiers Zeit vorüber, sein Rückzug auf die Haute Couture und sein Einzug ins Museum seien nur zwei Symptome dafür. Die Frau von heute (wohl eher die Kundin von Designer-Klamotten) würde andere Ansprüche an ihre Kleidung stelllen: “Gaultier machte Mode für Frauen, die nichts mussten und alles durften, für exzentrische Trophy Wifes. [Phoebe] Philo oder [Stella] McCartney machen Mode für Frauen, die viel müssen, aber das Gefühl haben, immer noch nicht alles zu dürfen. Auf einmal muss Mode Bekleidung sein und trotzdem gut aussehen; und das in einem Alltag, in dem es eigentlich nicht mehr darum gehen soll, gut auszusehen.” (Quelle)

So beschäftigt mich momentan die Frage, ohne dabei wirklich zu einem Schluss gekommen zu sein: Was bedeutet Alltagstauglichkeit für mich – weniger im Hinblick auf Zweckmäßigkeit, sondern auf Frauenbilder.

** Und da es zu regnen anfing, hier ein Foto der gestreiften Else von vorn – aufgenommen Zuhause mit Selbstauslöser. H. hatte keine Lust mehr.